Geschichte / Die Wahrheit
Ein Narr mit Schellenkappe zieht mittels einer Seilwinde eine Wasserschale aus einem Ziehbrunnen. Darin befindet sich eine nackte, in sich kauernde Frau mit langen Haaren, die weinend ihr Gesicht in den Händen birgt. Um den Brunnen versammeln sich Schaulustige, die gaffend dem Geschehen beiwohnen. Niemand macht ernsthaft Anstalten, der verzweifelten Frau zu helfen. Der Narr ist der einzige Aktive in der Szene um den Brunnen. Er besitzt Narrenfreiheit und nimmt für gewöhnlich kein Blatt vor den Mund. Mit seiner direkten und unverblümten Art, kann er es sogar wagen, Königen die "Wahrheit" zu sagen (vgl. Hofnarren). Dieser Narr hier bringt sprichwörtlich die Wahrheit ans Licht. Nackte Frauengestalten, die aus einem Brunnen steigen, galten im 18. und 19. Jahrhundert in der Bildenen Kunst bzw. in Karikaturen als Personifikationen der Wahrheit. Die Wahrheit muss aus dem Dunkeln (der Verborgenheit) zuerst ans Licht gelangen, damit sie erkannt wird. Darum funktionierte die Brunnenmetapher so gut. Diese Figur der Wahrheit leidet jedoch offensichtlich. Sie drückt mit ihrer Haltung aus, dass sie die "schmerzhafte Wahrheit" ist. Aber die Menschen ergözen sich bloss an ihrem Anblick und Schadenfreude macht sich breit. Diese gesellschaftskritische Darstellung soll verdeutlichen, dass das Leid in der Welt vielen Menschen gleichgültig ist. Sie verfolgen zwar passiv die Geschehnisse, z.B. durch die Medien, mit - vielleicht sind sie sogar für das Elend mitverantwortlich - tun aber aktiv nichts dagegen, um den Betroffenen zu helfen.
Herkunft: Europa, Schweiz, St. Gallen
Datierung: 1915
Material: Radierung
Masse: H 18,5 x B 17,4 cm
Inventarnummer: G 2019.131
Provenienz:
- 25.06.2019: Peter Georg Gilsi (18.04.1933), Schenkung
- Kulturmuseum St. Gallen